Impulsvortrag: Warum Kultur uns alle retten wird

vvon Sven Graf, künstlerischer Leiter des Teo Otto Theaters

Trotz aller außergewöhnlichen Umstände sind wir nicht nur „noch da“, wir machen Fortschritte. Wir haben nicht nur das nationale und internationale Programm wieder auf Vordermann gebracht, sondern auch alte und neue Kontakte wiederbelebt und Kooperationen zum Beispiel mit der Akademie für Kulturelle Bildung, dem WTT, der Lüttringhauser Volksbühne und der Klosterkirche und weitere sind geplant. Mit der „KreaConvention“ hatten wir eine sehr lebendige Remscheider und Bergische Kulturszene zu Gast. Unsere „Company in Residence“ wird im Februar mit drei international renommierten Choreografen einen eigenen Tanzabend von und für Remscheid produzieren. Die Zuschauerzahlen steigen allmählich wieder, Workshops und Kooperationen sind Tagesgeschäft, wie zuletzt mit der Zentrum für Politische Bildung, mit dem wir für 400 Schülerinnen und Schüler an ihren Schulen Workshops zum Thema Verschwörungstheorien und Bedrohung der Demokratie durchgeführt haben – übrigens kostenlos für alle Seiten. Trotz aller aktuellen Herausforderungen sind wir im vergangenen Jahr nicht stehengeblieben, sondern arbeiten daran, die kulturelle Basis unserer Stadt aufzubereiten. Dies geschieht in hervorragender Zusammenarbeit mit den Verantwortlichen, wofür ich mich an dieser Stelle herzlich bedanken möchte. (…)

„Wenn ich von einem Corona-Trauma spreche, vermute ich, dass dies einigen von Ihnen das Durchatmen erschwert. Für die Kultur war gesorgt. Bundesmittel, Landesmittel, Stadtmittel. Warum also verharrt die Kulturszene im Neuen? Jahr mit einer eigentlich drei Jahre alten Frage: „Ist Kultur systemrelevant?“ An dieser Stelle möchte ich um etwas Verständnis bitten, dass es für viele eigentlich eine traumatisierende Erfahrung war, dass die hart erarbeitete Existenzgrundlage und die darauf aufbauenden Lebensmodelle über Nacht zusammenbrachen (…) All jene, die fehlende wirtschaftliche Sicherheit zugunsten von Leidenschaft und Enthusiasmus in Kauf genommen haben, standen plötzlich vor der bitteren Frage: Bin ich einfach entbehrlich? (…)

An dieser Stelle sei betont, dass die Förderrunde „Neustart Kultur“ im Hinblick auf den Erhalt der ökonomischen Strukturen der Kultur sehr sinnvoll war. Auch unser Remscheider Kulturnotfallfonds. Nicht nur wegen der finanziellen Unterstützung, um die schiere Existenzangst Einzelner zu lindern, sondern weil die Stadt parteiübergreifend und ganz direkt, fast persönlich Zuspruch ausspricht. (…)

Das Publikum kehrt jedoch nicht scharenweise und ausgehungert ins Theater zurück. (…) Das Durchschnittsalter im Theater liegt bei 60+, und es gibt nicht so viele junge Zuschauer wie ältere, meist aus biologischen Gründen. Die zwei Jahre Corona haben uns in diesen Punkten mindestens fünf Jahre in die Zukunft katapultiert. Das Publikum zurückzugewinnen ist sicherlich ein wichtiger Punkt für das kommende Jahr, aber in Zukunft noch wichtiger ist es, neues Publikum zu gewinnen. Zunächst müssen wir das „junge Publikum“ ernst nehmen, nicht nur als Publikum der Zukunft, sondern auch als Publikum der Gegenwart. Jugendkultur besteht nicht nur aus Trends und Moden, die morgen wieder verschwinden, auch wenn ihr das oft vorgeworfen wird. (…) Denn Uns allen bleibt die Tatsache, dass die Generationen, die nach uns kommen, uns überleben werden. Ich finde, es passt zu einer Stadtkultur, die Themen und die Ästhetik einer Jugendkultur ernst zu nehmen. Das erhöht die Chancen, dass die Werte und Ansichten der älteren Generation ernst genommen werden.

Zweitens müssen wir uns mit all jenen in Verbindung setzen, die, aus welchen Gründen auch immer, bewusst entschieden haben, dass dieses Theater keinen interessanten Zeitvertreib für sie bietet. (…) Es wird sicher einen langen Atem und gute Argumente brauchen, um dieses Publikum für das Theater (wieder) zu begeistern. (…) Welche Berechtigung hat das Theater noch, wenn es scheinbar niemand mehr sehen will? (…)

Aus einem spannenden Stück extrahieren wir eine Aussage oder Moral und die Emotionen dieser Situation. Je nach Intensität können Erzählungen so mächtig sein, dass über sie nicht einfach nützliches Wissen vermittelt wird, sondern dass wir ein echtes Gemeinschaftserlebnis haben, als hätten wir die Situation selbst erlebt. Das bedeutet auch, dass wir diese Erfahrung nicht mehr selbst (wieder) machen müssen, um daran zu reifen. Je nach Erzählung kann dies auf emotionaler Ebene, auf sachlicher Ebene oder auf einer Kombination mehrerer Ebenen geschehen. (…) Das kann sicher auch bei guten Filmen oder Serien im Kino oder auf Netflix der Fall sein. Das Theater als Erlebnisraum hat jedoch einen entscheidenden Vorteil: Man ist mit dem Erlebnis nicht allein, sondern kann schon während des Erlebens seine eigenen Gedanken und Gefühle mit denen der anderen Anwesenden vergleichen. Oder anders ausgedrückt: Ich bleibe nicht in meiner eigenen Blase gefangen und bin nicht darauf angewiesen, dass ein Logarithmus mir die Antwort auf meine Gedanken gibt, die er errechnet hat, um dem, was ich suche, am nächsten zu kommen. Und es gibt noch einen weiteren wesentlichen Vorteil, der für Politiker besonders interessant erscheinen mag. Auf der Bühne können Themen behandelt und diskutiert werden, die moralisch oder emotional so aufgeladen sind, dass man entweder beim Aufbringen einer Gegenposition schnell ins moralische Abseits gedrängt wird oder der andere so wütend ist, dass eine sachliche Diskussion ausbleibt Frage. Eine solche Situation wird oft entschärft, wenn man sich nicht gegenseitig für die eigene Position oder Meinung einsetzt, sondern über ein Stück diskutieren kann, das im Zweifel auch stoisch über sich ergehen lässt, wenn man es für Trash oder Teufelswerk hält. Aber der viel zitierte Rand der Kiste hat eine unvermeidliche Komponente: Wenn man hochgezogen ist, und sei es auch nur für einen Moment, und man darüber hinweggesehen hat, kann man den Kopf nicht mehr zurückdrehen. Gerade in einer Stadt wie Remscheid, die so viel innovatives Handwerk beheimatet, hat dies den letzten Generationen Fortschritt und Wohlstand gebracht. Heute sagen wir: Denken Sie über den Tellerrand hinaus.

Was heißt das auf den Punkt gebracht: Indem wir ein Stück erleben, sprengen wir die Grenzen der Gegenwart. Wir können von etwas lernen, das jemand erfunden hat, das eigentlich nie passiert ist, sei es in Star Wars oder Hogwarts. (…) Sich gemeinsam daran zu beteiligen, nicht nur getrennt am eigenen Bildschirm, schafft Gemeinschaft und schult die Mobilität unseres Bewusstseins, Lösungen in der realen Welt zu finden. Die Tatsache, dass wir diese enormen Fähigkeiten erworben haben und immer noch verfeinern, die Realität in unserem Geist zu erschaffen und uns in sie einzufühlen, ist zu einem großen Teil auf die lange Tradition der darstellenden Künste zurückzuführen. Und deshalb ist es für uns alle auch heute noch von größter Bedeutung, gelegentlich ein Theater zu besuchen. Ich für meinen Teil werde mein Bestes geben, damit Sie dort Inhalte und Kunstformen finden, die Sie ansprechen, begeistern, herausfordern, zum Lachen und manchmal auch zum Weinen bringen. Denn wenn das klappt, wirst du das Theater reicher verlassen, als du es betreten hast. (Beitrag zum Neujahrsempfang der SPD Remscheid)