VIELE ENTDECKUNGEN BEIM JAZZFESTIVAL MÜNSTER 2023
Jazz, so vielfältig und bunt wie die moderne Gesellschaft
11. Januar 2023 von Roland Spiegel
Eines der besten Jazzfestivals zumindest in Deutschland ist in Münster in Westfalen. Am ersten Wochenende des neuen Jahres waren dort erfrischende musikalische Kontraste zu erleben – unter anderem mit Eva Klesse, Aki Takase, Luise Volkmann, Matt Carmichael und Paal Nilssen-Love. Ein Festivalprogramm als große Komposition.
Am Ende gab es Klänge zum Schwelgen. Der schwedische Musiker Tobias Wiklund – ein freundlicher Rübezahl mit wallendem Bart und Haar – spielte ein Instrument, das einst Louis Armstrong in seinen frühen Jahren gespielt hat: das Kornett, das fast wie eine Trompete aussieht und klingt, aber nicht. Wiklund lässt das Instrument so klingen, dass es fast den Anschein erweckt, es würde zu Ihnen sprechen. Melodien wirken bei ihm wie lebendige Erzählungen, es gibt Dinge, die nachdrücklich betont und Dinge, die leise beiseite gesprochen werden, es gibt Dinge, die lachen und scherzen und griesgrämiges Grummeln – und jeder Moment lädt zum aufmerksamen Zuhören ein. Wiklund ist ein Meister im Modellieren von Klängen, die er immer wieder mit einem Dämpfer verfremdet, um sie genüsslich knurren zu lassen. Seine Band war am Ende eines dreitägigen Festival-Marathons, und Wiklund drückte dann dem Publikum sein Erstaunen aus: Was für ein buntes Programm man dort erleben könne, so viel unterschiedliche Musik! Ein solches Festivalprogramm bringt tatsächlich das „Wesen der Demokratie“ zum Ausdruck.
DIE “ÄSTHETIK DER KONTRASTE”
Gut gesprochen, Kornettist! Es lebe der musikalische Unterschied – denn er spiegelt auch die Unterschiede einer Gesellschaft wider. Das seit 1979 bestehende Jazzfestival in Münster in Westfalen ist längst ein Festival mit Vorbildcharakter, weil es anspruchsvolle Vielfalt zelebriert und auch für eingefleischte Experten immer wieder Neues bietet. Der Programmgestalter Fritz Schmücker, seit langem Leiter dieses von der Stadt organisierten Festivals, nennt sein Konzept augenzwinkernd „Ästhetik des Kontrasts“ und sagt, dass mit ihm das „Who is Who des unbekannten Jazz“ erlebbar sei. Grundsatz: Keine Jazz-Pop-Stars, sondern anerkannte und noch zu entdeckende Top-Künstler der aktuellen internationalen Szene.
IDYLLISCHE Klänge AUS SCHOTTLAND
Pianist Fergus McCreadie und Tenorsaxophonist Matt Carmichael beim Münster Jazz Festival 2023 | Bildquelle: Ansgar Bolle
Auch nach den Jahren der pandemiebedingten Absagen war dieses Festival, das vornehmlich im großen Haus des Stadttheaters (900 Plätze) stattfindet, beim Publikum ein voller Erfolg: Bis auf ein Familienkonzert am Sonntag war alles ausverkauft Morgen. Und es gab Deutschlandpremieren, wie den Duo-Auftritt der beiden jungen Schotten Matt Carmichael (Tenorsaxophon) und Fergus McCreadie (Klavier), 23 und 25 Jahre alt und gerade dabei, international bekannt zu werden. Sie ließen Melodien kreisen, tanzen und rollen – und es entstanden Landschaftsassoziationen voller grasbewachsener Hügel. Laute Klangidyllen, aber sehr gekonnt, mit raffinierten kleinen Schrägen dazwischen.
KLINGT IM LIEBEVOLLEN VERZERRUNGSSPIEGEL
Vom beschaulichen Hochland direkt hinein in ein wild gemixtes musikalisches Abenteuer mit ausdrucksstarkem Gesang und einer kantigen Kombination aus Klängen und Geräuschen: Die Saxophonistin Luise Volkmann und ihr 13-köpfiges Ensemble Été Large führten das Publikum kunstvoll und laut ins Verrückte. Luise Volkmann, Jahrgang 1992, ist ein besonders vielseitiges Talent, nicht nur als Instrumentalistin, sondern auch als Komponistin und Texterin. Als aktuelle Gewinnerin des Westfälischen Jazzpreises trat sie mehrfach bei diesem Festival auf. In ihrem großen Ensemble huldigt sie der Musik der 68er-Generation, aus der ihre Eltern stammen. Aber nicht mit flachen Zitaten, sondern mit einem Sound, der wie Zappa-Eskapaden und Protestrock in einem zeitgenössisch-jazzigen, liebevoll verzerrten Spiegel erscheint.
Das Trio „3 Grams“ mit Sängerin Casey Moir, Altsaxophonistin Luise Volkmann und Sänger Michael Schiefel beim Jazzfest in Münster 2023 | Bildquelle: Ansgar Bolle
Rockende Gitarren, schmackhafte Keyboards, kreischende Saxophone, Cello-Kantilenen – und die sensationellen Stimmen von Casey Moir und Laurin Oppermann, die schnatternde Stimmakrobatik klassischem Kunstgesang entgegenstellen. Die Lieder aus dem aktuellen Programm „Wenn die Vögel ihren Chor erschallen“: Alles ein Genuss. Musik, die selbst Musiktheater ist. Zuvor war Luise Volkmann am selben Tag in einer sehr ruhigen Trio-Performance um eine Installation des Künstlers Gerhard Richter in der Dominikanerkirche zu sehen – und am Tag zuvor im Trio „3 Grams“: Altsaxophon plus zwei Stimmen (Casey Moir und Michael Schiefel) mit sehr fein gearbeiteten Songs voller Humor und tieferem Ernst.
TRANCE MUSIK UND BÉLA BARTÓK
Dieses Festival hatte viele aufregende Momente. Mit dem ersten Trio-Treffen von Pianist Aki Takase, Bassklarinettist Louis Sclavis und Schlagzeuger Han Bennink. Mit dem unglaublich ausdrucksstarken und virtuosen Trio des österreichischen Trompeters Mario Rom. Mit zwei unterschiedlichen Projekten der englischen Trompeterin Laura Jurd – darunter das Sextett „The Big Friendly Album“ mit der kuriosen und äußerst gelungenen Kombination der drei Blechblasinstrumente Trompete, Euphonium und Tuba. Mit der wilden Band des norwegischen Schlagzeugers Paal Nilssen-Love und ihren Klängen von absolut ungezähmter Schönheit. Mit der äußerst feinen und einfühlsamen Trance-Musik des Trios Other:Mother um die österreichische Schlagzeugerin Judith Schwarz. Mit der lustvollen und musikalisch tiefen Begegnung zwischen der deutschen Schlagzeugerin Eva Klesse und dem amerikanischen Pianisten Ethan Iverson („The Bad Plus“) und dem dänischen Bassisten Andreas Lang. Der atmosphärische Tango der französischen Bandoneonspielerin Louise Jallu. Und nicht zuletzt mit der Jazz-Kammermusik des Pianisten Lucian Ban, des Klarinettisten und Sopransaxophonisten John Surman und des Bratschisten Mat Maneri: In ihrem Programm „Transylvanian Folk Songs“ griffen sie auf Melodien zurück, die der Komponist Béla Bartók mehr in Siebenbürgen schrieb vor über 100 Jahren gesammelt und in einen berührenden Jazz voller feiner und nie beschönigender Klangnuancen geführt.
MUSIKLICHTER UNTER DEM HIMMEL VON TAUSEND LAMPEN
Programme wie dieses entstehen, wenn sich ein Festivaldirektor wirklich um Musik kümmert und nicht um große Namen. Nicht zufällig bunt, sondern bewusst bunt war dieser musikalische Jahresauftakt unter dem Himmel der tausend Lampen im Theater Münster. Die Dramaturgie des Programms wurde mit so viel Raffinesse entwickelt, dass das ganze Festival wie eine große Komposition wirkte. Festivals an anderen Orten, zum Beispiel in Bayern, könnten von solchen Programmen lernen.
Übertragung: Leporello am 11. Januar 2023 auf BR-CLASSIC