Wenn Sie sich früh genug Tickets besorgt haben, finden Sie sich an Stehtischen mitten im Kit Kat Klub, dem angesagtesten Ort der Stadt, wieder. Für dieses verrückte Golden-Twenties-Feeling hat die Neue Bühne Senftenberg eigens umgebaut, die ersten drei Sitzreihen im Saal entfernt und den Orchestergraben abgesenkt. Spätestens wenn Moderator Leon Haller mit schmeichelnder Chansonstimme und unwiderstehlichem Blick lockt: „Herzlich Willkommen! Bienvenue! Herzlich willkommen! In Cabaret, au Cabaret, to Cabaret!“ tauchen auch die Zuschauer in den Reihen in das magische Berlin der späten 1920er Jahre ein, dessen Pracht immer mehr braune Flecken bekommt.
Als Schauspieler hat Daniel Ris oft selbst den Bobby gespielt
Für den prall gefüllten Start der Premiere hat Ris einiges geboten. Als musikalischer Leiter konnte er den amerikanischen Pianisten und Komponisten Marty Jabara gewinnen. Er wurde bereits von Stars wie Madonna, Elton John und Clint Eastwood engagiert. Im Vorfeld gab es einige Aufregung, da er zunächst an eine Frauenband aus Berlin gedacht hatte. Jetzt heizt ein sechsköpfiges Team die Stimmung an.
Newcomerin Cassandra Emilienne ist Sally
Ein Orchester live auf der Bühne – das gibt es in Senftenberg schon lange nicht mehr. Die Kit Kat Klub Band macht einen fantastischen Job mit Pauken und Trompeten, Keyboards, Posaune, Cello, Kontrabass, Gitarre, Saxophon und Violine und sogar einer singenden Säge. Der passende Soundtrack für die ausgebildete Musicaldarstellerin Cassandra Emilienne, die seit dieser Spielzeit Teil des Senftenberg Ensembles ist. Als Sally Bowles kann sie ihre Leidenschaft für Gesang, Schauspiel und Tanz gleichermaßen ausleben. Diese Sally hat keine Probleme damit, den Romanschriftsteller Clifford Bradshaw (gespielt von Robert Eder in bröckelnder Schüchternheit) zu verführen. Was dem Lebemann Ernst Ludwig (Tom Bartels dem Nazi überzeugend den Weg weist) nicht gelingt.
Welche Wahl haben Sie in diesen immer dunkler werdenden Zeiten? Für Sally bleibt das Leben ein Kabarett. Und es gibt eine zweite große Liebesaffäre. Im aufkommenden Faschismus hofft sie vergeblich auf Massel (Glück). Zimmerwirtin Fräulein Schneider (Christina Dom, neu im Ensemble) und der jüdische Ladenbesitzer Herr Schultz (Daniel Borgwardt) zeigen sie in all ihrer Sehnsucht und Zerbrechlichkeit. Fräulein Kost, die alles andere als eine Food-Hasserin ist, wie sie Marianne Helene Jordan mit laszivem Spiel in der Sailor League (Andy Kubiak) auskostet, trifft mit ihrem ominösen patriotischen Lied den Kern.
Eine Reihe von Mädchen mit den Kit Kat Girls
Und so entsteht eine äußerst unterhaltsame, berührende, mitreißende, zunehmend beklemmende Atmosphäre. Auf dem schmalen Grat zwischen extravaganter Komödie und Drama zieht Showmaster Leon Haller einfach bravourös die Fäden zusammen und läuft mit seinem zwielichtigen, schillernden, dämonischen Schauspiel und Gesang zu Höchstform auf. Zusammen mit den androgynen Kit Kat Girls legten sie sogar eine (un)perfekte Mädchenserie hin.
Getragen wird das Musical natürlich auch von der tollen Musik, tollen Choreografien und den berühmten Liedern. Das gesamte Ensemble mit weiteren Gästen nutzt die Gelegenheit, seine Spielfreude sowie sein Gesangs- und Tanztalent unter Beweis zu stellen. Choreograf Jan Nicolas bringt es so richtig in Fahrt und sorgt sogar für tolle Charleston-Einlagen. Die Nummernmädchen (Julian Bender, Lukas Baeskow, Sarah Steinemer und Janneke Thomassen), allesamt sehr eigenwillige Charaktere, erweisen sich nicht nur als Augenschmaus, sondern auch als wahrer Glücksfall beim Singen und Tanzen.
Willkommen in der Lasterhöhle
Steven Koop hat die Bühne mit wenigen Mitteln in eine Lasterhöhle verwandelt. Die Kostüme von Gabriele Kortmann, Pelze, Korsetts, Netzstrümpfe, Strapse und Federn, Hüte, freizügige Unterwäsche, mit unzähligen witzigen Details tun ihr Übriges, um das überschwängliche Freiheitsgefühl im Rausch der 1920er Jahre zu beschwören, das es jedoch ist zunehmend bedroht.
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„Vielleicht dieses Mal“, zumindest für den Moment glücklich sein, das genießt das Publikum zusammen mit den Schauspielern an diesem Ort für allerlei Sehnsüchte. Wo man für einen Moment die Utopie der erotischen und politischen Freiheit leben kann. Bis ein Stein vom Himmel fällt. Nach all der Belustigung ist die Katastrophe in einem Gänsehaut-würdigen Schlussbild förmlich zu riechen.
Wann haben Sie das letzte Mal in der Lausitz so anhaltende Standing Ovations erlebt? Die Zuschauer jubeln und rufen die Schauspieler immer wieder zurück auf die Bühne. Und sie werfen ihre Rosen zurück in den Zuschauerraum. Daniel Ris gab in Senftenberg ein glänzendes Debüt als Regisseur. Lustvolles, unterhaltsames Theater mit politischer Relevanz, das die Menschen berührt – was will man mehr?
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