Kritik an Sharaf: Ein Gefängnis als Spiegel der (ägyptischen) Gesellschaft

Dies ist eine fiktive Geschichte, die in einer fiktiven Welt spielt“, versichert uns eine Texttafel zu Beginn. “Wir können uns freuen, dass die Realität besser und schöner ist.Man muss natürlich kein einziges Bild gesehen haben, um sicher zu sein, dass genau das Gegenteil gemeint ist. Und das muss man nicht wissen”Ehren“ ist eine Adaption eines Romans von Sonallah Ibrahim: Der 1937 in Kairo geborene Schriftsteller gilt als einer der schärfsten Kritiker des ägyptischen Regimes, gegen dessen Repressalien selbst der sogenannte Arabische Frühling nichts ausrichten konnte und in dem die Demokratie, Meinungs- und Bewegungsfreiheit sind seit dem Militärputsch 2013 zwar verfassungsrechtlich gegeben, haben aber wenig mit der Realität zu tun. Diese Diskrepanz zwischen Behauptung und Realität macht sich Regisseur Samir Nasr im vorangegangenen Satz zu eigen: Bereits die erste Szene, die in einem kahlen Verhörraum spielt, macht unmissverständlich klar, dass „Sharaf“ reale Zustände abbilden will – denn welchen Grund könnte das auch haben eine so grausame Realität erfinden?

Sharaf mag Ehre bedeuten, aber Ashraf (Ahmed Al Munirawi) will sich in der Gefängnishierarchie nach oben arbeiten, auch wenn er dafür seine Ideale verkaufen muss.

1959 wurde Ibrahim wegen seiner politischen Aktivitäten verhaftet und zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt, von denen er schließlich fünf Jahre verbüßte. Ein Großteil dieser Erfahrung floss in den Roman Sharaf von 1997 ein, der fast ausschließlich in einer Strafanstalt spielt. „Sharaf“ bedeutet so viel wie „Ehre“ – und nicht umsonst heißt der Protagonist so: Ashraf Abdel Aziz Suleiman (Ahmed Al Munirawi), wie er mit bürgerlichem Namen heißt, ist eine sanfte Erscheinung, ein Mann, der offensichtlich durchs Leben geht mit guten Absichten geht – zumindest niemand, dem kaltblütiger Mord zugeschrieben würde. Trotzdem wird ihm genau das vorgeworfen: Anscheinend in Notwehr hat er einen Mann (einen „Ausländer“, wie es im Gespräch heißt) getötet, den er aus nicht klar benannten Gründen besuchte und der versuchte, ihn zu vergewaltigen . Während des Verhörs bekommt Sharaf keine Gelegenheit, sich zu erklären oder zu verteidigen. In der Art mittelalterlicher Hexenprozesse erpresst die Polizei schließlich ein Geständnis, indem sie ihn foltert und seiner Schwester mit Gewalt droht. Sharaf muss ins Gefängnis – und weder er noch der Film werden es für den Rest der Laufzeit wieder verlassen…

Lebe “wie ein König”

Wie zahlreiche andere Filme dieses Genres entwirft „Sharaf“ das Gefängnis als Mikrokosmos, der die realen gesellschaftlichen Verhältnisse fortsetzt und widerspiegelt. In der Haftanstalt angekommen, wird Sharaf in die Hierarchie eingeführt: Gefangene werden in „staatliche“ und „königliche“ Gefangene eingeteilt, wobei letztere in vergleichsweise sauberen, geräumigen Zellen leben, normale Kleidung tragen dürfen, anständiges Essen erhalten und Beschäftigungsmöglichkeiten haben zu ihrer Verfügung . Wer diese Privilegien genießt, entscheidet vor allem nach zwei Kriterien: dem sozialen Status und der Bereitschaft, der Anstaltsleitung mit kleinen und großen Gefallen entgegenzukommen. Zunächst kommt Sharaf zum „Staat“, der das Territorium der „Königlichen“ nur zum Putzen betreten darf. Hier lebt er mit mehreren anderen Insassen in einer heruntergekommenen, dunklen Zelle, die so eng ist, dass der Pipi-Eimer direkt neben dem provisorischen Schlafbereich steht. Auch die Duschzeit ist streng begrenzt: Nass, halbnackt und voller Seifenlauge muss Sharaf eines Tages in seine Zelle zurückkehren – als Zuschauer friert man schon allein vom Zuschauen. Auch hier gilt das Gesetz des Stärkeren: Zigaretten dienen als Währung und der Zellenwärter hat nicht die Macht des Klügsten oder Schönsten, sondern des Drogendealers Batsha, der wiederum als Spion arbeitet. Jede noch so kleine Geste der Solidarität wiegt viel auf dieser Welt.

Sharafs Geliebte Hoda (Jala Hesham) sitzt nicht im Gefängnis – fühlt sich aber trotzdem wie eine Gefangene.

In solch einem ungerechten System gibt es nur drei Möglichkeiten: rebellieren, sich stillschweigend unterwerfen – oder mit den Regeln spielen und sich dadurch eigene Vorteile verschaffen. Sharaf will in der Hackordnung aufsteigen, ein “König” werden, und nach einem versuchten sexuellen Übergriff von Batsha gelingt ihm das. Doch Gefängnisdirektor Pasha traf diese Entscheidung auch nicht aus Altruismus: Sharaf sollte ihm Informationen über den Arzt und Systemgegner Dr. Get Ramzy Yacoub (Fadi Abi Samra) geben, der ebenfalls unschuldig hinter Gittern sitzt und seine Gedanken im Zaum hält ein Tagebuch. Sharaf wartet derweil vergeblich auf einen Anwalt – und ahnt zunehmend, dass seine Hoffnungen auf ein friedliches Leben mit seiner Partnerin Hoda (Jala Hesham) vergebens sind. Als Hoda ihm in einer Szene gesteht, dass sie auf Druck ihrer Familie einen anderen Mann heiraten wird, wird das Paar durch eine vergitterte Tür getrennt. Die Kamera zeigt beides in Großaufnahme und lässt die Grenzen zwischen Innen und Außen verschwimmen. Spätestens hier wird klar: Das Gefängnis reicht weiter als das große Tor in die Gesellschaft. Laut Regisseur Samir Nasr ist sein Film ein Versuch, jenen eine Stimme zu geben “die sonst keine Stimme haben“, und er richtet sich ausdrücklich an ein europäisches Publikum, dem er die Umstände erklären will, die so viele arabische Männer und Frauen zur Flucht veranlassen. An einer Stelle äußert Sharaf auch seine Pläne, nach Verbüßung seiner Haftstrafe nach Europa auszuwandern. Insofern ist “Sharaf” ein relevanter Film, der ein gewichtiges Anliegen hat und Einblicke gewährt, die uns sonst verborgen bleiben würden. Aber macht ihn das unbedingt zu einem guten Film?

Puppentheater gegen Repression

„Sharaf“ konzentriert sich zu sehr auf das Vorbildliche, um tatsächlich zu greifen. Der namensgebende Protagonist ist der Fixpunkt, um den sich eine Reihe von Figuren arrangiert, die allesamt eine exemplarische Funktion haben und so zu Repräsentanten ihrer Herkunft, politischen Anschauungen und gesellschaftlichen Situation schrumpfen. Die Kapiteleinteilung unterstützt diesen Eindruck, indem sie für uns den Fokus lenkt, den Film in Segmente aufteilt und den Erzählfluss blockiert. Stilistisch geht „Sharaf“ mit düsteren Farben und generischer Streichermusik selten über das Standard-Arthouse-Festivalkino hinaus. Der Film ist daher immer dann am besten, wenn er sich in ambivalentere Gefilde vorwagt: Nachdem etwa der Arzt zur sogenannten Siegesfeier ein patriotisches Theaterstück aufführen soll, stattdessen aber heimlich ein subversives Puppenspiel vorbereitet, seine Komplizen – einschließlich Sharaf – sich opportunistisch aus der Affäre ziehen, sodass nur Dr. Ramzy Yacoub in Einzelhaft geht. Dort schreit er tagelang seine Überzeugung durch die Wände und versucht erfolglos, seine Mitgefangenen zum Hungerstreik zu drängen.

Das Wort „Schuld“ ist beim Scrabble nur sechs Punkte wert.

Im letzten Drittel taucht mit Salem (Ibrahim Salah) eine wirklich interessante Figur auf: Zwölf Menschen hat er nach eigenen Angaben mit einem Schal erdrosselt, und kaum kommt er an, wird Sharaf gewarnt, auf seinen Hals zu achten. Sein seit zehn Jahren nicht gestilltes Bedürfnis nach menschlicher Nähe macht den scheinbar insgeheim homosexuellen Salem bald zum Beschützer, bleibt aber in seiner Mischung aus unterschwelliger Bedrohung und zerbrechlicher Wärme schwer zu fassen. Diese Folge hätte alleine einen ganzen Film verdient. Fazit: Thematische Relevanz allein macht noch keinen gelungenen Film: „Sharaf“ verdichtet die gesellschaftspolitischen Verhältnisse in Ägypten zu einem Gefängnismikrokosmos, traut sich aber trotz gelungener Einzelmomente ästhetisch zu wenig und steht sich mit seiner episodischen Struktur selbst im Weg.